Wissenschaft

Wissenschaft: Stretching, Dehnen, aktiv, passiv – so geht es

Wer möchte nicht mit raumgreifenden Zügen schwimmen? Neben der Kraft spielt die Flexibilität dabei eine große Rolle. Mit den richtigen Methoden zur Muskeldehnung können Sie ihre Leistung erheblich verbessern.

Von Holger Lüning

In den 90er-Jahren entbrannte in der Sportwissenschaft eine hitzige Diskussion über richtiges und falschen Dehnen. Das Lager spaltete sich in die Anhänger des aktiven Dehnens, also mittels schwingender Dehnungsübungen, und der Befürworter des statischen Dehnens. Über ein Jahrzehnt wurden die Vor- und Nachteile diskutiert und untersucht. Mit dem finalen Ergebnis, dass jede Methode ihre Berechtigung hat.

Einigkeit besteht in der Feststellung, dass eine flexible Muskulatur in Ausdauersportarten, die durch viele gleichförmige Bewegungszyklen gekennzeichnet sind, erhebliche Vorteile mit sich bringt. Spart man bei jeder Bewegung nur ein wenig Energie oder erzielt – z.B. durch eine größere Schrittlänge – eine höhere Leistung bei gleichem Aufwand, dann kann der Zeitgewinn immens sein. Das Training der Flexibilität sollte folgerichtig Bestandteil Ihres Trainings sein.

Stellen Sie sich folgendes Beispiel eines Marathonläufers vor: bei einem Lauf von 3:30 Stunden Länge und einer Schrittfrequenz von 180 Bodenkontakten pro Minute absolviert der Läufer insgesamt 37.800 Schritte. Kann er durch eine bessere Flexibilität seine Schrittlänge um nur 5cm (die Größe einer Briefmarke) verbessern, kann er sich einen Zeitvorteil von ungefähr 9 Minuten erarbeiten. Sicher, dies ist reine Theorie. Aber dennoch eindrucksvoll und auch auf das Schwimmen übertragbar.

Muskellänge erhöhen

In der Sportwissenschaft versteht man unter dem Begriff des Dehnens, die Aktion mittels gezielter Übungen den Muskelursprung und den –ansatz voneinander zu entfernen und den Muskel somit zu einer Längenzunahme zu bewegen. Dies geschieht durch die Auseinanderbewegung von beweglichen Eiweißbrücken innerhalb der Muskelfaser. Da ein Muskel immer über mindestens ein Gelenk zieht, bestimmt seine Länge auch das Bewegungsausmaß des betreffenden Gelenks. Verkürzte Muskeln bedeuten demzufolge immer eine Bewegungseinschränkung und können sogar bremsende Faktoren darstellen!

Zudem erhöht sich die Verletzungsgefahr, wenn ein verkürzter Muskel innerhalb einer schnellen kraftvollen Bewegung über sein aktuell mögliches Längenmaß hinaus gedehnt wird. Muskelzerrungen oder gar Faserrisse können die Folge sein.

Deutlich wird der Zusammenhang, wenn man sportliche Bewegungen analysiert. Versuchen Sie doch mal einen Ball sehr weit zu werfen. Sie werden bemerken, dass Sie die Muskulatur weit vordehnen, um den Ball weit hinauszuschleudern. Je weiter Sie den Wurfarm nach hinten bewegen können desto höher ist der Schwung. Der Ball fliegt weiter!

Wippende Übungen kontraproduktiv?

Doch zurück zu den Theorien des korrekten Dehnens. Die aus der Gymnastik stammenden, wippenden Bewegungen wurden von den Experten in den 80er-Jahren als verletzungsfördernd betrachtet. Zudem stellte man fest, dass der Muskel bei einer plötzlichen Überdehnung, z.B. durch wippende Bewegungen, einen eigenen Schutzmechanismus aktiviert, der den Muskel sofort wieder kontrahieren (also zusammenziehen) lässt. So gesehen schien das Ergebnis des dynamischen Dehnens eher kontraproduktiv.

Diesen Schutzmechanismus konnte man Untersuchungen von Sven-A. Sölveborn (1983) und Karl-Peter Knebel (1985) zufolge durch langsame, behutsame oder sogar statische Dehnungsübungen in der finalen Dehnungsposition ausschalten. Diese Form des Dehnens führte über neuronale Mechanismen sogar zu einem deutlichen Abfall der Muskelspannung – der Relaxation oder der sogenannten Detonisierung. Das Ziel schien erreicht, die Idee des Stretchings war geboren. Dynamisches und schwingendes Dehnen wurde als altmodisch betrachtet.

Klaus Wiemann (1991) und Georg Wydra (1997) konnten in jahrelangen Untersuchungen jedoch klären, dass weder die eine noch die andere Dehnungsmethode zu bevorzugen seien. Vielmehr besäße jede Methode ihren eigenen, sinnvollen Einsatzzweck. Eine gedehnte, flexible Muskulatur ist leistungsfähiger. Doch wäre der Abfall der Muskelspannung (Muskeltonus) z.B. vor einem Wettkampf eher leistungshindernd. Stretching würde die Leistung demzufolge negativ beeinflussen, weil der Muskel zu stark entspannt. Dynamisches Dehnen mit kurzen Kontraktionen, zumal noch in einer wettkampfähnlichen Bewegung ausgeführt, würde den Muskel in einen sehr guten Vor-Startzustand versetzen.

Ende der Diskussionen

Das vergangene Jahrzehnt brachte schließlich das einvernehmliche Ende einer langjährigen und kontroversen Diskussion. Vor einer sportlichen Betätigung sei es demzufolge sehr viel wichtiger mittels dynamischer Bewegungen den Muskel in einen vorgedehnten und aktivierten Zustand zu versetzen. Wenn Sie sich vor einem Wettkampf aufwärmen, sollten Sie also ruhig leichte schwingende Bewegungen ausführen. Damit erhöhen Sie die Durchblutung und Temperatur in den Muskeln und Gelenken und bringen Ihr „System“ auf Touren. So konnte Andreas Klee (1999) nachweisen, dass schon wenige Dehnbewegungen genügen, um die Bewegungsreichweite um 8-15% zu erhöhen.

Das statische Dehnen in gehaltenen Dehnungspositionen gilt wegen seiner spannungsreduzierenden Wirkung vor allem in der Nachbereitung sportlicher Belastungen als angezeigt. Langzeituntersuchungen von Geoffrey Goldspink den 90er-Jahren zeigten, dass regelmäßiges, statisches Dehnen zu strukturellen Längenveränderungen im Muskel führen. So bildeten sich sogar neue Eiweißbrücken im Muskel, die zu einer messbaren Verlängerung führten. Langfristig betrachtet, und für zyklische Ausdauerleistungen relevant, kann dies zu einer Verbesserung von Schrittlänge beim Laufen und Bewegungsreichweite beim Schwimmen führen.

Nicht unmittelbar nach dem Training dehnen

Doch nicht immer sollten Sie sofort nach dem Sport mit dem Stretching beginnen. Besonders nach hochintensiven Belastungen, die von hohen muskulären Krafteinsätzen bestimmt werden, sollten Sie einige Zeit verrinnen lassen. Da der Muskel in dem Fall eine maximale Anzahl an Muskelfasern rekrutiert und folglich viele Brückenbildungen innerhalb des Muskels entstehen, kommt es zu einer Anhäufung von Stoffwechselendprodukten (wie z.B. Laktat). Dann sollten Sie zunächst ein ruhiges Abwärmen (z.B. Auslaufen, Ausschwimmen) durchführen oder sogar regenerative Maßnahmen (z.B. Bäder, Sauna) ergreifen, bevor sie Stretchingübungen durchführen.

Damit unterstützen Sie die Wirkung Ihres Trainings und können sich schon mental auf die nächsten Aufgaben einstimmen.

Was Sie beachten sollten

Der Zugewinn an Flexibilität hängt von der Regelmäßigkeit Ihres Trainings ab. Versuchen Sie 3x Woche ca. 10 Minuten für Ihre Dehnungsübungen einzuplanen.

Vorher

  • dynamisches Dehnen vor der sportlichen Betätigung
  • kombinieren Sie dynamisches Dehnen mit leichten Aufwärmübungen
  • beginnen Sie mit langsamen, kontrollierten Schwingbewegungen
  • vermeiden Sie reißende und zerrende Bewegungen
  • gehen Sie niemals über die Schmerzgrenze hinaus
  • Übungsdauer: 2x (20-30 Sekunden)

Nachher

  • statisches Dehnen nach der sportlichen Betätigung
  • je nach Intensität lassen Sie ruhig etwas Zeit vergehen
  • schaffen Sie eine beruhigende Atmosphäre
  • kombinieren Sie statisches Dehnen mit Entspannungsmethoden (Sauna, Bäder)
  • gehen Sie niemals über die Schmerzgrenze hinaus
  • Übungsdauer: 3x (10 Sek Halten pro Übung und Seite)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert