Schwimmsport & Pandemie: Quo vadis?
Ist der Schwimmsport langfristig betroffen?
Ein Blick in die verschiedenen Ebenen des Schwimmsports
„Womöglich geht uns gerade in der kompletten Breite das sogenannte Goldene Lernalter verloren!“, sagt Sportwissenschaftler Ralph Färber. Der ehemalige deutsche Spitzenschwimmer ist als Athletiktrainer am Olympiastützpunkt Hessen tätig und erlebt die Auswirkungen der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie hautnah.
„Insbesondere Nachwuchssportlern könnte das Training durch anhaltende Schwimmbad- und Sporthallenschließungen langfristig und nachhaltig fehlen. Damit entstehen Lücken in der allgemeinen wie auch spezifischen Ausbildung motorischer und koordinativer Fähigkeiten, die in der nötigen Qualität vielleicht niemals wieder aufgeholt werden können“, merkt der frühere deutsche Rekordhalter über die 200-Meter-Bruststrecke kritisch an.
Wirkung unterschätzt?
Wer nur die aktuelle Situation bewertet, der unterschätzt womöglich die langfristige Wirkung auf den Spitzensport. Kinder und Jugendliche, denen das Training beispielsweise wegen fehlender Kadernormen verwehrt bleibt, könnten dem deutschen Spitzensport langfristig verloren gehen. Haben die Verantwortlichen bedacht, wie schwer es ist, einem begeisterten Nachwuchssportler ohne Kaderzugehörigkeit, begreiflich zu machen, weshalb manche Altersgenossen täglich ihr Trainingspensum abspulen können? Welchen Sinn macht es, wenn 14-Jährige in bestimmten Ballsportarten im Freien miteinander trainieren können, die 15-Jährigen aber hinter dem Zaun bleiben und den Freunden zuschauen müssen? Werden sie jemals die Energie aufbringen, um diese Rückstände wettzumachen?
Zunehmendes Ohnmachtsgefühl
Mit dieser Frage konfrontiert, antwortet Färber fast schon ein wenig resignierend: „Es ist immer häufiger zu beobachten, wie sich bei den jungen Menschen eine Art Ohnmachtsgefühl einstellt. Warum trainiere ich überhaupt? In der Folge werden sich Sportler wie auch Eltern möglicherweise neu ausrichten und den Fokus noch stärker auf die Ausbildung legen. Der Sport wird in seiner Bedeutung abgewertet.“
Wer kann es Eltern und Kindern verdenken, wenn man nicht mehr weiß, für welche Perspektiven oder gar Visionen man sich anstrengen soll? Sport ODER Ausbildung? Eine fast schon rhetorische Frage. Wünschenswert wäre, wenn man nicht ein ODER sondern ein UND sehen könnte.
Die entweder-oder-Frage
Irgendwann kommt der Moment, indem es gilt, eine Entscheidungen zu treffen. Sicherlich haben sich die Rahmenbedingungen einer dualen Karriere in den vergangenen Jahren sukzessive verbessert. Dennoch hallen die kritischen Stimmen prominenter Sportler nach. Etwa wie die von Diskus-Olympiasieger Robert Harting:
„… Harting meinte: Nein. „Wenn du zwanzig bist, musst du dich entscheiden. Entweder Sport oder Bildung. Beides gemeinsam geht nicht. Viele entscheiden sich für Bildung, weil die Gesellschaft einen furchtbaren Druck ausübt. …“ (Quelle: FAZ, Link)
Spitzensport zu betreiben war noch nie einfach. Überlegungen, wie die von Harting, könnten immer mehr in den Vordergrund rücken, wenn es in der Familienrunde um die entweder-oder-Frage geht.
Doch das ist nicht alles! Schließlich erstreckt sich die Gruppe der Sportler auf weit mehr Leistungs- und Alterssegmente. So ist das Schwimmen eine Lifetime-Sportart für jung bis alt, von Leistung bis Gesundheit.
Einschränkungen für jung und alt
Die wohl mitgliederstärkste Gruppe in den Statistiken des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV) ist hier noch gar nicht genannt. Sie haben zwar ihre berufliche Karriere weitestgehend schon gemacht, sehen aber im Sport noch viel mehr als die reine Körperertüchtigung. Denn auch Mastersschwimmer absolvieren Deutsche, Europa- und Weltmeisterschaften, betreiben engagierten Leistungssport und haben damit sicherlich ein Mindestrecht an Berücksichtigung, wenn es um die Bereitstellung von Trainingsmöglichkeiten geht. Doch eine Lobby scheinen sie nicht zu haben.
Zweiklassen-Gesellschaft?
Betrachtet man die aktuelle Situation des Schwimmsports – wie auch in anderen Sportarten – einmal ganz nüchtern, haben wir dann nicht sogar eine Zweiklassen-Gesellschaft? Sicher, Gerechtigkeit ist ein großes Wort. Doch wohin führen Einschränkungen, wenn die einen dürfen und die anderen nicht? Ist das gerecht? Die meisten Sportverbände gehen hier auf kommunikative Tauchstation. Sportler warten indes weiter auf Lösungen.
Der Schwimmsport steckt in der größten Krise. Und es scheint, als würde es niemand wagen, die Maßnahmen und deren Verhältnismäßigkeit zur Eindämmung des Infektionsgeschehens im Sinne eines konstruktiven Diskurses zu kritisieren. Sollte der Verband allein nicht schon wegen seiner Funktion die Diskussion anstoßen und für die Interessen seiner Mitglieder einstehen, Konzepte erarbeiten und sie in die praktische Umsetzung bringen? Weshalb erkennt die Politik nicht den enormen gesundheitlichen Aspekt des Schwimmens für die Bevölkerung in allen Altersbereichen? Welche Signale senden Verantwortliche damit aus? Ist es nicht einmal die Diskussion wert?
Was bleibt ist Ratlosigkeit. Bei einigen Wasserfreunden wird es zunehmend zur Resignation.
Der Verlust ist absehbar
Junge schwimmsportbegeisterte Menschen fragen sich, ob das tägliche Training überhaupt noch Sinn macht. Mastersschwimmer sind ihres wichtigsten Ausgleichs beraubt und kommen durch diese Trainingspause vielleicht niemals in ehemalige Leistungsbereiche. Der Verlust für den deutschen Schwimmsport kann immens sein. Würde man noch die Auswirkungen auf fehlende Möglichkeiten des Schwimmenlernens, der DLRG-Ausbildung, der Gesundheitskurse wie Wassergymnastik etc. ausweiten, würde man in ganz andere Dimensionen vordringen.
Und von den vielen Trainern, deren Funktion so enorm wichtig ist, war in diesem Zusammenhang ebenfalls noch gar keine Rede. Denn sie verlieren wir womöglich auch noch. Und wir sprechen hier lediglich von einer einzigen Sportart und ihren spezifischen Problemen. Das „Big Picture“ sieht womöglich noch sehr viel dramatischer aus.
Ein langer Atem wird verlangt. Doch: wie lange lässt sich die Luft anhalten?
Ein Beitrag von Holger Lüning