Training & Wettkampf

Wie geht das? 49,45 Sekunden über 100m Schmetterling

Der Entwicklungsprozess im Schwimmsport

Welche Trainingsmaßnahme wurden in den letzten Dekaden modifiziert?

Dies ist die Fortsetzung des Artikels „Racepace-Training“ > KLICK

Anhänger von Racepace-Trainingsmethoden wie dem Ultra-Short-Race-Pace-Training (USRPT) oder auch des Polarized Trainings bauen auf verschiedene Effekte, die sich sehr streng an den Erfordernissen des Wettkampfs orientieren. Einfach gesprochen: je wettkampfnaher die Trainingsinhalte sind, umso besser wird auch der Transfer sein. Körper und Geist sollen sich nicht übermäßig mit tendenziell niedrigeren Intensitäten als im Rennen konfrontiert sehen.

Und blicken wir in unser Training, so stellen wir fest. Die meisten Inhalte liegen zum Teil deutlich unter dem Tempo, das wir im Wettkampf schwimmen wollen. Zeit für ein Umdenken?

Diese Konfusion soll durch das Racepace-Training im Rahmen einer polarisierenden Aufteilung vermieden werden, weshalb die Umfänge zwangsläufig etwas sinken. Beachtenswert ist hier die sehr aufmerksame Betrachtung der Regeneration, denn natürlich kann der Sportler nur dann an seine Grenzen gehen, wenn er ausgeruht ist. Und da Leistungsentwicklung immer am Rande der persönlichen Möglichkeiten entsteht, ist die gezielte Regeneration der zweite wichtige Baustein des Trainings!

US-Schwimmer Michael Andrew, der nach dem USRPT-Modell trainiert, limitiert seine Trainingseinheiten auf ca. 3 Kilometer Umfang und absolviert sie zumeist auf der 25m-Bahn. Das klingt erstaunlich – vor allem vor dem Hintergrund seiner Leistungen.

49,45 Sekunden über 100 Meter Schmetterling

Doch das kann nicht das einzige Merkmal der überragenden Leistungen, beispielsweise eines Caeleb Dressel, sein, der den Weltrekord über 100 Meter Schmetterling in Tokio auf unglaubliche 0:49,45 Minuten gedrückt hat. Eine Zeit, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit für einen Platz in der deutschen 4×100-Meter-Freistil-Staffel ausgereicht hätte. Der Amerikaner ist ein gutes Beispiel für einen wesentlichen Entwicklungsschritt im Schwimmtraining. Und dieser Schritt wird nicht im Wasser sondern an Land realisiert. Dort, wo in vergangenen Dekaden der Kraftraum fast ausschließlich für das Training der antriebsrelevanten Muskulatur genutzt wurde, steht im modernen Training der komplette Athlet im Fokus. Die Stabilität der belasteten Bereiche des Bewegungsapparates stehen deutlich mehr im Zentrum der Überlegungen als das früher der Fall war.

Ein wichtiger Aspekt für eine erfolgreiche Leistungssport-Karriere und womöglich auch für die Zeit danach. Ein wichtiger Entwicklungsschritt!

Liegen die echten Fortschritte gar nicht nicht im Wassertraining?

Sieht man sich die Start- und Wendetechnik (> KLICK „Start von Caeleb Dressel in der Analyse“)der heutigen Spitzensportler an, so wird deutlich, wo sich manche Zehntelsekunde der Zeitverbesserung verbirgt. Einerseits durch die Hilfestellung veränderter Startblöcke und anderer Lockerungen der Regeln (z.B. Delphin-Kick beim Brustschwimmen) ermöglicht, ist eine andere Athletik zu erkennen. Sprungkrafttraining gehört deshalb zum Repertoire eines Schwimmers ebenso die wie Berücksichtigung der allgemeinen Stabilisierung des Rumpfes. Denn dort wo der Sportler sich selbst und zudem mit den körpereigenen Hebeln transportiert, muss zwangsläufig das gesamte System berücksichtigt werden.

Im Laufsport haben Studien gezeigt, dass die Reduzierung des Lauftempos sehr stark mit der abnehmenden Stabilisierung des Sprunggelenks korreliert! Es ist also gar nicht unbedingt die Antriebsmuskulatur der körpereigenen Hebel, sondern vielmehr die Struktur an den Stellen der Kraftübertragung. Stärken Sie als Läufer die stabilisierenden Muskeln um das Sprunggelenk herum, können Sie die Kraft der Antriebsmuskulatur effektiver und länger in Geschwindigkeit umsetzen. Im Schwimmen ist das nicht anders!

Das Schultergelenk: das entscheidende Bauteil

So ist das Schultergelenk womöglich das entscheidende Bauteil (>KLICK Leistungspotenzial Schultergelenk), um das Sie sich kümmern sollten. Und zwar völlig unabhängig von der Alters- und Leistungsklasse in der Sie sich befinden. Trainieren Sie die Muskeln, die Ihr Schultergelenk stabilisieren, so sorgen Sie für eine wichtige Verletzungsprävention und Leistungssteigerung zugleich. Ab und zu raus aus dem Wasser – so könnte die Devise heißen.

Das Video zu Tipp 05: Leistungspotenzial Schultergelenk

Wäre Michael Gross auch heute dominierend?

Wäre denn nun ein Ausnahmeschwimmer wie Michael Gross unter heutigen Bedingungen auch unter den schnellsten Schwimmern der Welt? Selbst der 1984 beim Olympiasieg in Nylonbadehose geschwommene Weltrekord in 1:47,44 Minuten über 200 Meter Freistil ist auch heute noch eine beeindruckende Zeit. Bezieht man die technischen Entwicklungen mit ein, so kann man sicherlich allein dadurch die ein oder andere Zehntel in Abzug bringen. Es ist davon auszugehen, dass die Konsequenz in der Trainingsmethodik ihn auch in der heutigen Zeit an die Spitze des Feldes bringen würde.

Gewohnheiten überprüfen und ggf. modifizieren

Und genau das kann auch Ihnen gelingen. Überprüfen Sie die Gewohnheiten in Ihrem Training. Gehen Sie nicht vielleicht viel zu häufig ermüdet in eine Intervallserie, die eigentlich dazu dienen sollte, die Wettkampfleistung zu verbessern? Warum im Training langsam schwimmen, wenn es im Rennen deutlich schneller zur Sache gehen soll? Genau aus diesem Gedanken heraus, kann eine wirkungsvolle Modifizierung Ihres Trainings entstehen. Und das völlig unabhängig von der Wettkampfstrecke. Trainieren Sie spezifischer.

Das kann auch mal so aussehen wie bei Katie Ledecky. In der Analyse haben ihre Trainer erkannt, welche Wirkung die Verbesserung des Beinschlags auf der Mittel- und Langstrecke für sie haben kann. Die Weltrekordlerin absolviert deshalb sehr harte Beinarbeit-Serien am Ende einer schon erschöpfenden Trainingseinheit, um die Situation zu simulieren, die sie im Wettkampf erwartet. Es geht also nicht nur um das reine Schnellschwimmen, sondern auch um die Frage, welche Fähigkeiten Sie zu welchem Zeitpunkt eines Rennens abrufen sollten, um sich auf Bestzeitenkurs zu bewegen. Racepace ist also das Tempo, das zu einem bestimmten Moment des Rennens geleistet werden soll. Und diese Momente gibt es in Fülle und verschiedensten Erscheinungsformen, ob über 50 oder 1.500 Meter.

Das individuelle Start-Ziel-Lastenheft erstellen

Viele interessante Ansätze, die sich ergeben, wenn Sie Ihre Wettkampfstrecke einmal vom Start bis zum Anschlag analysieren. Plötzlich ergibt sich ein umfangreiches Lastenheft, welches Ihnen sehr viel Aufschluss darüber gibt, wo Sie effektiv ansetzen können. Daraus folgend ergibt sich eine echte Strategie mit gezielten Methoden und Abläufen im Training. Denn eins ist auch klar: das beste Training der Welt gibt es nicht! Auch wenn immer wieder Hypes um die Trainingsmethoden einiger Spitzenathleten die Runde macht und zum Nachmachen reizt.

Vergessen Sie nicht, sich als Individuum zu verstehen. Oftmals sind die neuesten Trends gar nicht unbedingt neu. Vielleicht haben die besten Sportler, neben natürlich einigen genetisch vorhandenen Eignungen, vor allem einen entscheidenden Vorteil. Nämlich, dass sie die Methode gefunden haben, die bei ihnen am besten wirkt. Gehen Sie deshalb in die Eigenanalyse. Sie werden vielleicht schneller fündig als Sie das zunächst glauben!

von Holger Lüning

Tipp: das beste Training der Welt!?